Sehr geehrter Herr Bundeskanzler,
die militärische Reaktion Israels auf den Überfall der Hamas am 7. Oktober dauert nun schon mehr als sechs Monate an. Als Koordinationsrat der Muslime (KRM) haben wir den terroristischen Angriff der Hamas in unseren Erklärungen verurteilt und die Freilassung der Geiseln gefordert. Diese Verurteilung entspricht unserem Grundsatz, die Wahrung der Menschenwürde zu unterstützen, wo immer sie bedroht ist. Unschuldige Zivilisten müssen unter allen Umständen geschützt werden.
Die Situation der Zivilbevölkerung in Gaza ist nach sechs Monaten Krieg katastrophal. Ihr Leid ist kaum in Worte zu fassen. Nicht Tag für Tag, sondern Stunde für Stunde, sogar jeden Augenblick sind wir und die gesamte Menschheit Zeuge davon, wie unschuldige Menschen ihr Leben verlieren. Gaza wird immer wieder breitflächig bombardiert. Augenzeugen zufolge sind Zivilisten oft Ziel willkürlicher Erschießungen bzw. Bombardierungen. Ihnen wird nicht nur die allernötigste Infrastruktur, sondern selbst Nahrung, Wasser und Medizin vorenthalten.
Aktuellen Berichten zufolge wurden über 33.000 Menschen durch die israelische Armee getötet. Darunter sind mehr als 12.000 Kinder und mehrere Tausend Frauen, Ältere und Kranke. Mehr als 70.000 Palästinenser wurden verletzt. UN-Repräsentanten berichten, dass die Unschuldigsten, die Kinder, am meisten unter diesem Krieg leiden. Unzählige Kinder stehen vor dem Hungertod, wurden verstümmelt, haben ihre Eltern, Verwandte und Freunde verloren und können nicht von Ärzten versorgt werden, da diese ebenfalls Opfer von Gewalt wurden. Die von allen Seiten als unverhältnismäßig bewertete Gewalt, der insbesondere Kinder ausgesetzt sind, hat seelisches Leid hinterlassen, das auch nach Jahrzehnten nicht verheilen werden wird.
Offizielle Berichte und verifizierte Videoaufzeichnungen, wie jene, die vor dem Internationalen Gerichtshof vorgetragen wurden, dokumentieren eine Vielzahl von Kriegsverbrechen. Bedauerlicherweise bleibt eine angemessene Ahndung dieser Verbrechen bisher aus. Angesichts des unvorstellbaren Leids darf die internationale Gemeinschaft, insbesondere unsere Bundesrepublik, nicht gleichgültig zuschauen oder lediglich oberflächliche Kritik äußern. Deutschland unternimmt leider keine ausreichenden Anstrengungen, um diesem Krieg ein Ende zu setzen. Die deutsche Regierung spricht Israel ihre bedingungslose Unterstützung bzw. ihr Vertrauen aus, obwohl bekannt ist, dass in der aktuellen Regierung israelische rechtsextreme Fanatiker den Ton angeben. Diese haben nachweislich mehrmals dazu aufgerufen, internationales Recht zu missachten, etwa indem palästinensisches Gebiet besiedelt und die Tötung von unschuldigen Zivilisten billigend in Kauf genommen wird, was in massivem Widerspruch zu den von Deutschland bisher international vertretenen Prinzipien steht. Wer trotz besseren Wissens schweigt und die Menschenrechtsverletzungen nicht deutlich und mit Nachdruck verurteilt, macht sich unglaubwürdig, wenn er sich woanders für Menschenrechte und internationales Recht starkmachen möchte.
Das Vorgehen der israelischen Armee wird schon seit Monaten weltweit angeprangert. Abstimmungen in den Generalversammlungen der Vereinten Nationen, aber auch Proteste weltweit haben gezeigt, dass die überwältigende Mehrheit der Staaten rund um den Globus und Menschen überall auf der Welt die militärischen Maßnahmen Israels verurteilen. Darunter auch israelische Menschenrechtsorganisationen, Aktivisten und Familien von Opfern des Angriffs der Hamas. Diese Kritik an dem Vorgehen Israels wird über alle politischen, weltanschaulichen, religiösen, kulturellen und nationalen Grenzen hinweg geäußert.
Seit Wochen und Monaten zeigen Meinungsumfragen in Deutschland, dass eine große Mehrheit der Menschen in Deutschland den Gewalteinsatz der israelischen Armee für unverhältnismäßig und daher auch für nicht gerechtfertigt hält und sich dafür ausspricht, dass Deutschland Schritte unternimmt, um das Leid der Palästinenser zu beenden.
Auch das internationale Ansehen Deutschlands leidet unter der bisherigen Politik. Es wird kritisiert, dass die deutsche Regierung bisher kaum auf die Kriegsverbrechen eingegangen bzw. sie eindeutig und scharf verurteilt hat und trotz zahlreicher dokumentierter Fälle an der bedingungslosen Unterstützung Israels festhält. Unser Land erlebt gerade einen Tiefpunkt seines internationalen Ansehens nach dem Zweiten Weltkrieg.
Als Gesamtgesellschaft tragen wir eine besondere Verantwortung für das jüdische Leben. Antisemitismus soll und darf in unserer Gesellschaft keinen Platz finden. Uns ist diese historische Verantwortung bewusst. Diese besondere Verantwortung muss jedoch Hand in Hand gehen mit der Verantwortung für Menschenrechte und dem Einsatz für menschliches Leben überall auf der Welt, insbesondere jetzt für die Rechte der Palästinenser in Gaza und im Westjordanland.
Wir sehen uns mit Blick auf das Ausmaß des Leids der Palästinenser und des unvorstellbar grauenvollen Ausmaßes dieses Kriegs vor der historischen Verantwortung, die Kriegsverbrechen aufs schärfste zu kritisieren und die Bundesregierung mit Nachdruck dazu aufzufordern,
- sich entschieden für einen dauerhaften Waffenstillstand einzusetzen, mit dem Ziel der Schaffung von Umständen, die zu einem anhaltenden Frieden führen;
- sich dafür einzusetzen, dass keine unverhältnismäßige Gewalt durch die israelische Armee angewandt wird. Es dürfen keine unschuldigen Zivilisten für die Untaten der Hamas kollektiv bestraft werden;
- Schritte zu unternehmen, um die dringend benötigte humanitäre Hilfe nicht nur auf dem Luftweg, sondern auch über Land möglich zu machen;
- sich dafür einzusetzen, dass die Kriegsverbrechen aller Beteiligten dokumentiert und für die Strafverfolgung zur Verfügung gestellt werden;
- notwendige Schritte zu unternehmen, damit Gaza wiederaufgebaut werden kann;
- sich entschieden und mit diplomatischem Engagement für die Zweistaatenlösung einzusetzen;
- dafür zu sorgen, dass die Gewalt im Westjordanland gegen die Palästinenser beendet und durch die Vereinten Nationen ein Bericht über die Lage der Palästinenser im Westjordanland erstellt wird;
- sich entschieden gegen die illegalen Siedlungen auszusprechen;
- sich dafür einzusetzen, dass alle vom Internationalen Strafgerichtshof geforderten Maßnahmen umgesetzt werden.